Soll ich ehrlich sein? So sehr ich mich auch danach sehne, dass alles endlich bald wieder „wie vorher“ wird: Ich bin gleichzeitig auch dankbar für diese Krise, die wir gerade zu meistern versuchen. Denn was das „Klima“ seit Jahren versucht, schafft „Corona“ innerhalb weniger Wochen: VERZICHT und ENTSCHLEUNIGUNG!!! Innerhalb kürzester Zeit haben wir alle zwar schleichend, aber doch irgendwie direktamente unser Leben komplett auf den Kopf gestellt. Und das, ohne vorher großartig abzuwägen, nachzudenken, zu entscheiden. Veränderung geht also scheinbar doch. Wenn man nur muss. Und ist gar nicht so schlimm. Zumindest solange es gefühlt nicht für immer ist. Vor ein paar Wochen nannten wir das Ganze noch „JOMO“ – The Joy Of Missing Out. JOMO stand fürs neue Glück des Verzichts. Für die Erleichterung, nicht mehr alles mitmachen zu müssen. Im Alltag nicht und auch sonst nicht. Es stand für den Verzicht auf übermäßigen Konsum und unnötigen Freizeitstress – für den Verzicht auf die nächste Party genauso wie für den Verzicht auf das noch schönere Haus oder das noch größere Auto. Mir persönlich kam JOMO gerade recht. Mich nervte das „Immer-mehr-Immer-höher-Immer-weiter“ in unserem Umfeld kolossal. Es kostete unendlich viel Kraft und widersprach mehr und mehr dem, was wir unseren Kindern fürs Leben mitgeben wollen. Ich hatte das Gefühl, schleichend aus meinem Wertegerüst geschleudert zu werden.
JOMO – The Joy Of Missing Out
Es kommt mir also ehrlich gesagt ganz gelegen, dass andere Zeiten eingeläutet werden. Begonnen haben wir damit als Familie schon vor einem Jahr mit einer einjährigen Family-Auszeit in Den Haag. Alles einmal auf Null. Wir nutzten die Gunst der Stunde und beschenkten uns mit Zeit und Verzicht. Stattdessen gab es Family-Time und den Strand vor der Tür. Und ganz viel neues Bewusstsein für die kleinen Dinge: Wir essen seitdem deutlich weniger Fleisch und Zucker (zumindest drei von uns ;-), schaffen es tatsächlich regelmäßig mit dem Einkaufsnetz in den Supermarkt, schmieden Pläne fürs Elektroauto und fahren schon jetzt so häufig es geht mit dem Zug statt zu fliegen. Das Wasser kommt aus dem Hahn, Strohhalme wurden abgeschafft, ich entschuldige mich für jeden eh sehr seltenen Coffee2Go und selbst die Kids gucken beim Klamottenkauf neuerdings aufs Materialetikett.
Überhaupt wird jede Anschaffung von Klamotten und Tinnef erstmals wirklich ernsthaft und bis zum Schluss überdacht: Ist es einfach nur das Haben-Wollen-Gefühl oder brauchen wir das wirklich? Zugegeben: Ich bin weiterhin glücklich, wenn das Objekt der Begierde tatsächlich gebraucht und dann auch gekauft und über den Warenkorb bis zu mir nach Hause wandert. Ich liebe weiterhin alle schönen Dinge und Orte dieser Welt und habe immer noch schlimmstes Fernweh sowie kribbelnde Glücksgefühle beim Schnäppchen-Deal. Und wir genießen auch weiterhin das Leben und erfüllen uns große und kleine Träume. Aber es passiert alles viel BEWUSSTER und DANKBARER. Und das ist eine ganz neue Art von Glück. Und auch der Verzicht macht glücklich. Ganz einfach deshalb, weil man plötzlich weiß, dass all die überflüssigen Dinge eben nicht glücklich, sondern süchtig machen.
Die Befreiung von Vergleichsdruck und Optimierungswahn
Bewusster und nachhaltiger zu leben befreit. Es befreit vor allem von Vergleichsdruck und dem ständigen Wunsch nach Selbstoptimierung. Es bringt Ruhe in eine Welt, die in unseren Breitengraden auch weiterhin von Leistung und Erfolg geprägt sein wird, was an den richtigen Stellen eingesetzt grundsätzlich auch gut ist. Aber die Kunst besteht doch darin, dabei das richtige Maß zu finden. Nicht mehr scharf zu sein auf jeden heißen Scheiß, sondern auch mal glücklich und erfüllt mit dem, was man hat. Die Zeit dafür ist perfekt. Grün zu sein ist endlich hot, achtsam ist das neue smart. Und dank Corona wissen wir, dass der nötige Verzicht auch funktionieren kann. Noch vor fünf Jahren als „Öken“ abgestempelt, sind’s heute plötzlich „Hipster“. Nachhaltig shoppen, Fleisch weg lassen, Zuhause bleiben, echte Freundschaften pflegen, Bücher lesen, Handys ausschalten – das Besinnen auf das eigentlich schon abgedroschene „WENIGER IST MEHR“ ist angesagter denn je.
Ob der JOMO-Trend überleben wird, zeigt sich in den nächsten Monaten. Denn das, was bisher freiwillig geschah, ist jetzt in Teilen erzwungen und könnte – das zeigt die Geschichte – leider auch in einer antizyklischen Bewegung enden. Nämlich genau dann, wenn aus „Joy“ wieder „Fear“ wird und damit aus „JOMO“ wieder ein „FOMO“. The Fear Of Missing Out – wenn der Spaß am Verzicht wieder umschlägt in eine neue Angst vor erzwungenem Verzicht. Das ist und wird eine der großen Herausforderungen in den nächsten Monaten und Jahren. Und die können und dürfen wir nicht nur Greta und den Freitagen überlassen.
Chance und Pflicht der Älteren
Vielmehr ist es doch eigentlich die Chance der Älteren. Vielleicht sogar unsere Pflicht: Denn wenn wir unser bisheriges 40+ Leben ehrlich und ungeschminkt betrachten, wissen oder ahnen wir zumindest, dass all das Getriebensein und Streben nach Mehr nicht nur anstrengt, sondern dass es uns vielmehr zerfrisst. Dass das materielle Hamsterrad genauso wie die Sucht nach Bestätigung die Ursache für zunehmende Burnouts und toxische Beziehungen sind. Dass unser heutiges Leben und Verhalten den künftigen Lebensraum unserer Kinder zerstört. Wir wissen, dass wir allein in den schönsten Hotels der Welt nicht glücklicher waren als mit guten Freunden und ein paar Büchsen Bier am heimischen Rheinufer. Wir wissen, dass wir so viel mehr Komplimente in der abgewetzten Uralt-Jeans ergattern als im sündhaft teuren Pailletten-Fummel. Und wir wissen, dass das schönste und größte Haus niemals ein ausgeglichenes Familien-Zuhause ersetzt. Wir wissen, dass echte Freundschaften Höhen, Tiefen und Entfernungen überstehen und dass der gute alte Eintopf zu Hause ganz einfach am besten schmeckt. Wir sind angekommen. Endlich.
Mit kleinen Dingen viel erreichen
Für mich sind Familie, Liebe und Freundschaft das Allerwichtigste. Ich erkläre unseren Kindern tagtäglich und immer wieder neu verpackt, was Respekt, Offenheit und Wertschätzung bedeuten – allen Menschen und auch der Umwelt gegenüber. Mit diesen Werten bin ich auf dem platten Land in einem alten Forsthaus aufgewachsen. Und für diese Werte kämpfe ich auch hier in unserem Großstadtdschungel. Dazu gehört aber auch, dass wir dabei Fehler machen dürfen. Denn es kann und muss nicht immer alles perfekt sein. Auch in punkto Umweltschutz und Nachhaltigkeit nicht. Das Wichtigste ist, dass wir überhaupt etwas tun und endlich mit den kleinen und einfachen Dingen beginnen. Dass wir diese mit festen Ritualen in unseren Alltag und unsere Normalität aufnehmen – auch wenn sie noch so belanglos erscheinen. Denn was für jeden von uns nur ein kleiner Schritt ist, ist in der Summe ein Riesensprung. Also einfach machen. Nein, besser: Einfach lassen. Einfach ab und zu verzichten. Auch nach Corona.
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1 comment
Hallo Anke, sehr interessanter Artikel